Leider war ich nur knapp ein halbes Jahr Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft. Ich hatte kaum Zeit, mich in ein Thema richtig einzuarbeiten. Dennoch konnte ich nicht ausscheiden, ohne wenigstens einmal geredet zu haben. Hier meine Jungfern- und Abschiedsrede in der Hamburgischen Bürgerschaft.
„Es geht um das Wohl und den Schutz unserer Kinder. Den Schutz vor
– Vernachlässigung,
– Misshandlung,
– Missbrauch.
Seit dem grauenhaften Tod von Jessica vor fast drei Jahren, der uns alle so fassungslos gemacht und zutiefst erschüttert hat, wurde viel diskutiert. Und es wurde der Sonderausschuss „Vernachlässigte Kinder“ eingerichtet.
Zu den einvernehmlichen Beschlüssen des Sonderausschusses zählte auch, die U 1 – U 9 Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen „verbindlicher zu gestalten“.
Sozialsenatorin Schnieber-Jastram sagte am 01.02.2006 hier in diesem Hause zu, die Empfehlungen des Ausschusses umzusetzen.
Zitat: „Ich nenne hier beispielsweise die Initiative, die U 1- bis U 9-Untersuchung verpflichtend zu machen.“
Und zum Thema Zusammenarbeit: „Ich würde mich freuen, wenn mich mein Eindruck nicht trügt, dass wir jetzt am Schluss des Sonderausschusses erreicht haben, dass für das Wohl von Hamburgs Kindern alle an einem Strang ziehen.“
Frau Schnieber-Jastram, Sie stehen hier noch in der Verantwortung. Sie haben diese Zusage nicht eingehalten. Sie haben den Strang losgelassen. Sie haben sich der Verantwortung entzogen.
Wie alarmierend die Situation heute in Hamburg ist, zeigt die aktuelle Debatte um die Studie des „Kompetenzzentrums für die Untersuchung von Kindern beim Verdacht auf Vernachlässigung, Kindesmisshandlung und sexuellen Missbrauch“.
Von fast 150 dort seit März 2007 untersuchten Verdachtsfällen haben sich mehr als 60% bestätigt.
Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wenn man bedenkt, dass das Kompetenzzentrum noch sehr jung und noch nicht allzu bekannt ist. Nur ein einziger Fall wurde von einem niedergelassenen Kinderarzt gemeldet.
Da wird mir schon ganz flau, wenn ich an eine Hochrechnung der Dunkelziffer denke.
Es geht darum, dass wir, meine Damen und Herren, hier in diesem Hause und vor allem im Senat Verantwortung übernehmen müssen.
Lassen Sie mich hier 2 Punkte vorweg sagen:
1. Ja, einige der von Ihren eingeleiteten Maßnahmen sind richtig und wichtig, und
2. Verbindliche Vorsorgeuntersuchungen können das Problem nicht alleine beseitigen. Sie können nur ein Baustein in einem Maßnahmekatalog sein. Aber ein wichtiger und dringend notwendiger Baustein.
Die Ursache des Problems liegt vor allem in der zunehmenden Armut und Perspektivlosigkeit, in der viel zu viele Eltern und Kinder in dieser Stadt leben müssen. Viele dieser Familien fallen durch das Raster von Vorsorge, Früherkennung und Betreuung. Kinder, die weder untersucht werden, noch in Krippen, Horten, Kitas oder Vorschulen betreut werden.
Es ist richtig, dass Fälle von Misshandlungen und Missbrauch in allen gesellschaftlichen Schichten vorkommen. Aber der größte Nährboden ist die Armut.
Zugegeben: Jessica ist ein drastischer Fall. Aber die steigende Zahl von vernachlässigten Kindern ist alarmierend, denn sie zeigt, dass in dieser Stadt etwas gründlich falsch läuft. Sie sind Anzeichen einer sich zunehmend spaltenden Gesellschaft in Arm und Reich. Und das in einer der reichsten Städte Deutschlands.
(Pause)
Wenn wir eine Verbindlichkeit oder gar eine Verpflichtung der Vorsorgeuntersuchungen erreichen wollen, müssen wir für die Ärzte, die Krankenkassen und die Behörden auch den verbindlichen rechtlichen Rahmen schaffen.
Dies kann auf Bundes- oder auf Landesebene politisch und gesetzlich gestaltet werden. Sie haben sich einseitig für den Weg der Bundesratsinitiative entschieden. Wir haben von Beginn an vorgeschlagen, beide Wege zu verfolgen, wie andere Bundesländer das auch getan haben.
Nun wird auf Bundesebene u.a. argumentiert, dass dies nicht ohne eine Änderung des Grundgesetzes ginge.
Unseren Antrag zur Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz (Drs. 18/7319) haben Sie abgelehnt.
Gutachten haben längst gezeigt, dass eine landesrechtliche Umsetzung möglich und wirksam ist. Wie dies in Landesrecht und in einem unbürokratischen Verfahren umgesetzt werden kann, hat das von der CDU regierte Saarland gezeigt. Mit Erfolg.
Andere Länder haben nachgezogen. Selbst Frau von der Leyen ist umgeschwenkt.
„Erfahrungen aus dem Saarland zeigen, dass auf diese Weise unbürokratisch nachgehakt wird.“
Im Interview mit NDR-Info „Vorsorgeuntersuchungen sind ein wichtiger Baustein“ antwortet die Bundesfamilienministerin am 28.12.2007 – also nach dem „Kindergipfel“ der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Länder im Dezember 2007 – auf die Frage „Kann man das nicht bundesweit regeln?“ wie folgt:
„Nein. Es ist gerade auf Länderebene richtig.“
Und weiter – konkret zum „Saarländer Modell“:
„Das Saarland ist da vorweggegangen und hat jetzt auch Erfahrung und sagt: ‚Das funktioniert. Wir können euch zeigen wie es geht’.“
Ich frage Sie: Warum geht das nicht in Hamburg?
Warum sind Sie nicht bereit, über unseren Vorschlag für verbindliche Voruntersuchungen nach dem Saarländer Modell ernsthaft zu diskutieren?
Sie wiegeln ab, reden sich raus und schieben die Verantwortung auf die Bundesebene ab.
Ihre starre Haltung ist für uns in keiner Weise nachzuvollziehen.
Staatsrat Wersich sagt im Ausschuss, Vorsorgeuntersuchungen seien als Schutz vor Kindesmissbrauch nicht geeignet, weil Ärzte die häusliche Situation nicht einschätzen könnten.
Abgesehen davon, dass das Quatsch ist, geht es darum doch gar nicht. Die Ärzte sollen nur die Eltern melden, die zur Vorsorguntersuchung kommen, damit wir in einem zentralen Register diejenigen finden, die ihre Kinder nicht zur Vorsorgeuntersuchung bringen.
Sie sagen, das vorgesehene Verfahren insbesondere für die 3,5 – 5-jährigen – also für die U8 und U9 – sei unangemessen aufwendig, weil die Kinder täglich in die Kita bzw. die Schule gingen.
Tatsache ist doch, dass Sie mit Ihrer Umsetzung des Kita-Gutscheinsystem und den Vorschulgebühren die Kinder aus armen Verhältnissen von dieser Betreuung ausgrenzen. Wir haben Sie immer wieder darauf aufmerksam gemacht. Weil es fachlich falsch und zutiefst sozial ungerecht ist.
Besonders erstaunlich ist, dass von Staatsrat Wersich im Ausschuss gesagt wurde, dem Senat sei es nie darum gegangen, die Früherkennungsuntersuchungen verbindlich zu machen. Das ist auch unsere Befürchtung. Das hörte sich bei Frau Schnieber-Jastram früher ganz anders an.
Ihr Weg einer bundesweiten Regelung ist gescheitert. Ihre Argumente sind fadenscheinig.
Sie haben sich längst in eine Sackgasse manövriert. Da rauszukommen hieße einzugestehen, dass unsere Warnungen und Vorschläge in den letzten Jahren richtig waren.
Das anzuerkennen ist schwer. Besonders in Wahlkampfzeiten. Dafür braucht man Mut und die Bereitschaft, Fehler zu korrigieren.
Wenn Sie in wenigen Minuten diesen Ausschussbericht annehmen und damit unseren Gesetztesantrag für eine verbindliche Vorsorgeuntersuchung ablehnen, setzen Sie parteipolitische Interessen im Wahlkampf vor das Wohl unser Kinder.“