In dem sehr pointierten und mutigen Artikel „Leben in der Scheinwelt“ auf handelsblatt.de gewährt ein Ökonomie-Professor dem Redakteur Olaf Storbeck – bei Kaffee und Gebäck – Einblick in die Psychologie der wirtschaftswissenschaftlichen Fachdidaktik: „Wissen Sie, die ersten vier Semester im VWL-Studium brauchen wir fürs Brain-Washing der Studenten.“ Das meinte er ernst. Schlimmer noch: Offensichtlich ist die Welt der ökonomischen Elite so weit weg von der Realität und den Entwicklungen der letzten 20 Jahre, dass sie zwei Jahre Gehirwäsche braucht, um mit ihren Studenten kommunikationsfähig zu werden.
Die Globalisierung und das Internet als ihr unglaublich mächtiger und schneller Katalysator, haben die Gesellschaft, unsere Kultur und die Wirtschaft in den letzten 20 Jahren radikal verändert. Web 2.0, Social Media, Social Network als zweite Stufe der Rakete demonstrieren aktuell in der arabischen Welt eine eindrucksvolle Möglichkeit digitaler Vernetzung. Und das war erst der Anfang. Was sind heute noch Volkswirtschaften? Könnten sich gar womöglich Grundlagen der Informations-, Kommunikations- und Organisationssysteme in Nationalökonomien und ihren Märkten mit transnationalen, internationalen, vernetzten Konzernen und ihrer globalisierten Finanzwirtschaft verändert haben? Könnte es sein, dass ihr Credo der letzten 20 Jahre – die Märkte regulieren sich selbst – etwas in Misskredit geraten ist, weil die Finanzkrise gerade den libertären, ultra- und neoliberalen Ansatz falsifiziert hat?
Storbeck in seinem Handelsblatt-Artikel „Leben in der Scheinwelt„:
Wie konnte es dazu kommen, dass sich ein ganzer Wissenschaftszweig so sehr von der Realität abkoppeln konnte? Ein zentraler Grund für diese Fehlentwicklung ist, dass sich in weiten Teilen der etablierten Makroökonomie seit den späten 70er-Jahren eine blinde, fast religiöse Marktgläubigkeit etabliert hatte. Nach den schlechten Erfahrungen mit hohem Staatseinfluss in den 60er- und 70er-Jahren hatte sich im Fach eine ultraliberale Geisteshaltung etabliert. Aus der richtigen Erkenntnis, dass der Markt in den meisten Fällen die besten Ergebnisse liefert, zogen liberale Ökonomen – allen voran Milton Friedman – den falschen Schluss, dies sei immer und auf allen Märkten der Fall.
Der fast religiöse Glaube an die Selbstheilungskräfte des Marktes führte auf dem Finanzmarkt zu einer laxen staatlichen Regulierung. Die Wirtschaftspolitik, die auf dieser Forschung fußte, ist eine von mehreren Ursachen für das ökonomische Desaster der vergangenen Jahre. Führende Vertreter der etablierten Makroökonomie waren von ihren Ergebnissen so überzeugt, dass sie selbst im Winter 2008, als die Weltwirtschaft am Abgrund einer zweiten Großen Depression stand, von Konjunkturprogrammen abrieten. Wäre die Wirtschaftspolitik diesen Empfehlungen gefolgt, hätte dies beispiellose Not und Elend über die Industrieländer gebracht.
Am 11. Januar 2011 hielt Helmut Schmidt eine Festrede zum 100. Geburtstags der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, dem Vorläufer der Max-Planck-Gesellschaft über die Verantwortung der Wissenschaft unter dem Aspekt der zu Beginn des 21. Jahrhunderts erkennbaren neuartigen Menschheitsprobleme:
Im Herbst des Jahres 2008 und im Jahre 2009 hat die Menschheit – allerdings nur mit Glück – eine weltweite sozial-ökonomische Depression vermeiden können. Weil die Regierungen und die Zentralbanken von zwanzig der wichtigsten Staaten der Welt dafür gesorgt haben, dass die Existenzkrise eines verantwortungslosen Bankengefüges – vor allem in New York und in London – nicht voll auf die reale Wirtschaft der Welt hat durchschlagen können. Weil es aber keine verbindliche Ordnung der Weltmärkte gibt, sind weitere globale Wirtschaftskrisen eher wahrscheinlich.
Es macht keinen Sinn, zu meinen, dies sei ein Feld, das man der Politik überlassen sollte. Denn die Politiker verstehen davon noch weniger als die Wissenschaftler. Die ökonomische Wissenschaft weltweit hat sich schon seit Mitte der 1990er Jahre nicht mit Ruhm, sondern eher mit Schande bedeckt. John Maynard Keynes war so ziemlich der Letzte, der ein globales Konzept entwickelt hat. Aber wer oder welches Team versucht einen neuen Ansatz?
Starker Tobak von unserer nationalen und europäischen Moralinstanz mit der ihm eigenen bemerkenswerten politischen, intellektuellen, ökonomischen und sprachlichen Trennschärfe. Wo sind die Ansätze? Wo sind die Antworten der Wirtschaftswissenschaften auf die Entwicklung globaler und digitalisierter Märkte in der Real- und der Finanzwirtschaft? Schmidts Frage ist mehr als eine Aufforderung zu neuem wissenschaftlichem Suchen nach ökonomischer Erkenntnis. Vielmehr klagt Schmidt an. Im Mainstream der ökonomischen Elite hat die Wissenschaft in den letzten 20 Jahren mit ihrer Shareholder-Orientierung, der Fokussierung der Unternehmensleitbilder auf maximale und kurzfristige Rendite die Gier zum Motor und Motivator betriebswirtschaftlichen Handelns gemacht. Und das Schlimmste dabei: Sie haben nicht die Eier in der Hose, ihre Fehler einzugestehen. Sie sind feige. Sie machen einfach weiter wie bisher. Uups, hat doch gar nicht so weh getan. Boni, Provisionen sprudeln wieder und die Ackermannsche Messlatte liegt erneut bei 25%.
Die ökonomische Wissenschaft ist gefordert. Was ist von ihr noch zu erwarten?
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